Jahresinterview 2024: Rück- und Ausblick der Unternehmerschaft Niederrhein

Herausfordernde Zeiten für die Wirtschaft am linken Niederrhein: Damit die Bedingungen am Standort Deutschland, an dem Wachstum dringend vorangetrieben werden muss, sowie die weltpolitische Lage die Stimmung nicht allzu sehr lähmen, müssen Planungssicherheit und Stabilität her, fordert die Unternehmerschaft Niederrein. Als Hauptgeschäftsführerin des Arbeitgeberverbandes macht sich Kirsten Wittke-Lemm für verlässliche Rahmenbedingungen stark, die für ein erfolgreiches unternehmerisches Handeln unabdingbar sind.

Die Unternehmen in der Region tragen Verantwortung für Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie für Investitionen in Innovationen am Standort linker Niederrhein. Was braucht es, damit die Wirtschaft dieser Verantwortung nachkommen kann?

Einen Neuanfang für den Standort Deutschland mit einer handlungsfähigen Politik, die zum Wohle unseres Wirtschafts- und Industriestandortes agiert. Es gilt, wieder in ein gemeinsames Handeln zu kommen, das versprochene Deutschlandtempo endlich in die Tat umzusetzen und Investitionsbereitschaft nicht weiter durch überbordende Bürokratie zu hemmen, sondern vielmehr durch Klarheit und Planbarkeit zu fördern. Nur so werden wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes erhalten und Wohlstand, Arbeitsplätze sowie letztlich auch den Sozialstaat zukunftsfähig sichern können.

Von bürokratischen Hürden über hohe Energiekosten bis hin zu einer maroden Infrastruktur – die Wirtschaft in der Region sieht sich mit vielen Hindernissen konfrontiert. An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, damit diese überwunden werden können?  

Es braucht stabile Rahmenbedingungen, die sich nicht ständig verschieben, indem es nach einem Schritt nach vorne direkt zwei zurück geht. Nehmen wir das Bürokratieentlastungsgesetz: Es hält – wenngleich auch zu wenige - gute Maßnahmen bereit, die ihren Zweck aber gleich wieder verfehlen, wenn kleineren Entlastungen immer wieder größere Belastungen, insbesondere durch eine zunehmende Regelungsdichte, folgen. Stichwort „Sicherung der Energieversorgung“: Unsere Industrie, gerade in unserer Region mit unseren vielen energieintensiven Betrieben, benötigt ganz dringend sowohl Versorgungssicherheit als auch endlich wieder international wettbewerbsfähige Energiepreise. Diese sind hier bei uns im internationalen Vergleich nach wie vor einfach zu hoch. In Sachen Infrastruktur sind die Ankündigungen zum Brücken- und Straßenbau in Nordrhein-Westfalen auch für unsere Region gewiss ein Licht am Horizont. Jetzt gilt es abzuwarten, ob der zusätzliche Haushaltsansatz den Erfordernissen, die mit moderner Infrastruktur einhergehen, gerecht werden kann. „Erhalt vor Ausbau“ darf dabei nicht das Credo sein.

Sozialpartnerschaft ist in lhrem Arbeitgeberverband eine gelebte Haltung. Was braucht es im Rahmen von Tarifverhandlungen, damit Beschäftigungsbedingungen im sozialpartnerschaftlichen Miteinander ausgewogen gestaltet werden können?

Tarifpolitische Lösungen mit Vorbildfunktion, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe und damit Beschäftigung sichern, setzen auf beiden Seiten die Fähigkeit und auch den Mut voraus, unterschiedliche Standpunkte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen - auch und insbesondere unter schwierigen Bedingungen. Dass die Tarifpartner ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung hier nachkommen, hat neben der Chemie-Tarifrunde im Frühsommer jüngst der Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie gezeigt: Trotz äußerst schwieriger Ausgangslage konnte ein Kompromiss gefunden werden, der durch lange Laufzeiten Planungssicherheit schafft und Belastungen mindert. Dies ist ein wichtiges Signal im Sinne der Standortattraktivität und damit der Standortstärkung.

Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang das Thema Tarifautonomie?

Die Tarifautonomie ist die Grundlage einer erfolgreichen Sozialpartnerschaft. Sie fördert die Stabilität von Wirtschaft und Gesellschaft sowie von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Hier darf der Gesetzgeber den Tarifpartnern ruhig sein Vertrauen schenken und ihnen mehr Spielraum lassen, damit sie weiterhin gemeinsam zielführend passgenaue und innovative Lösungen finden können.

Mit Blick auf den bevorstehenden Renteneintritt der Baby-Boomer steht eine große Arbeits- bzw. Fachkräftelücke zu befürchten. Wie reagiert die Unternehmerschaft Niederrhein darauf?

Mit der gezielten Ausbildung junger Menschen, die wir frühzeitig in Kontakt mit der beruflichen Praxis bringen. Wir machen sie fit, damit sie unsere Fach- und Führungskräfte von morgen werden – indem wir über Formate wie die „Chemie-Akademie Krefeld“, unsere „BERUFSPARCOURS“ oder den „Chemie-Aktionstag“ in Kamp-Lintfort die erforderliche Neugier und das Interesse der Jugendlichen für die duale Ausbildung wecken. Wir bieten ihnen niederschwellige Zugänge rund um den Start in die Ausbildung, über die sie eigene Stärken und Fähigkeiten entdecken und ihre Ausbildungsfähigkeit ausbauen können. Auch ihren Forschergeist sprechen wir an: Im kommenden Jahr zum 30. Mal über „Jugend forscht“ als unser großes Leuchtturmprojekt. Wir freuen uns auf den regionalen Jubiläumswettbewerb, den wir am 6. März 2025 im Krefelder Seidenweberhaus und dem Theater ausrichten werden.

Neben dem passgenauen Matching mit den Betrieben ist im Kampf gegen den Arbeits- und Fachkräftemangel ein frühes Mindsetting wichtig. Wo setzt man da an, um kein Erwerberpotenzial liegen zu lassen?  

Nicht nur bei den Schülerinnen und Schülern selbst, sondern auch in ihrem Umfeld. Maßgeblich ist und bleibt eine gute Vorbereitung durch eine hohe Qualität der Schulbildung, daher sollten auch Lehrkräfte von den Chancen einer dualen Ausbildung überzeugt sein. Das Schülerdatenübermittlungsgesetz ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um gezielt Schulabgänger anzusprechen, die noch keine Anschlussoption haben und Begleitung benötigen. Da die Eltern zu den wichtigsten Multiplikatoren für junge Menschen gehören, sollten aber auch sie noch stärker als bislang zu den vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten, die die Industrie am linken Niederrhein für sie bereithält, mitgenommen und für eine Karriere ihrer Kinder in der regionalen Wirtschaft begeistert werden.